Die aktuellste Bevölkerungsvorausberechnung der Stadt Chemnitz vom 25.08.2022 prognostiziert für die Stadt im Jahr 2035 eine Einwohnerzahl im Korridor zwischen 227.500 (untere Variante) und 242.500 (obere Variante). Die Prognose fußt auf Daten vom 31.12.2021 (damals 243.646 Einwohner), berücksichtigt somit nicht die starken Flüchtlingszuwächse aus der Ukraine (31.07.2022: 246.851 Einwohner | +3.205 Einwohner) und geht im Kern für die nächsten Jahre davon aus, dass der hohe Sterbeüberschuss der Stadt (deutlich mehr Sterbefälle als Geburten) nicht vollumfänglich durch Zuwanderung ausgeglichen werden kann. Während die obere Variante bis 2035 in jedem Jahr eine Mindest-Bevölkerungszahl von mehr als 240.000 aufzeigt, fällt in der unteren Variante die Chemnitzer Einwohnerzahl 2024 bereits unter den Wert von 240.000, 2032 unter 230.000 Einwohner. Die Stadtverwaltung gibt - bezugnehmend auf den großen Abstand zwischen oberer und unterer Variante - allerdings zu bedenken, dass die "derzeitige demographische Entwicklung" durch „große Dynamik und Unsicherheit” geprägt ist.
Folgende zusätzliche Anmerkungen und Interpretationen lassen sich aus Sicht von CHEMNITZ in ZAHLEN machen:
I. Die Stadt Chemnitz hat (nach 2009/10 und 2016/17) die dritte Bevölkerungsprognose bzw. Bevölkerungsvorausberechnung der jüngeren Vergangenheit vorgelegt. Da die Stadtverwaltung nicht in die Zukunft schauen kann, muss sie sich bei ihrer Berechnung auf bestimmte Grundannahmen beziehen. Eine davon ist, dass die Zahl der Sterbefälle in den nächsten Jahren immer deutlich über der der Geburten liegen wird, so wie dies bereits in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Chemnitz hat in den letzten zehn Kalenderjahren (2012-2021) insgesamt 22.200 Geburten, aber 34.900 Sterbefälle verzeichnet, verlor also im Rahmen des natürlichen Bevölkerungssaldos jahresdurchschnittlich ca. 1.270 Einwohner. Die zweite Rechengröße für die Vorausberechnung ist das Wanderungssaldo – ein Wert, der (wenn man ehrlich ist) nicht zu prognostizieren ist. Die Stadt Chemnitz hat es trotzdem getan und für die nächsten 13 Jahre bis 2035 immer eine positive Wanderungsbilanz für die Berechnung verwendet. Diese liegt in der oberen Variante bei +1.000 bis ca. +1.500 pro Jahr, in der unteren Variante jeweils jährlich im dreistelligen Bereich. Es ist klar, dass mit irgendeinem Wert gerechnet werden muss, aber bereits das Jahr 2022 (und die tausenden ukrainischen Flüchtlinge) zeigen, dass man damit auch daneben liegen kann. Im Mittel zwischen oberer und unterer Variante kalkuliert die Stadtverwaltung mit einem Wanderungssaldo im (durchschnittlich) hohen dreistelligen Bereich pro Jahr (im Zeitraum 2012 bis 2021 verzeichnete Chemnitz mehr als 151.000 Zuzüge und knapp 136.000 Wegzüge, gewann also jahresdurchschnittlich durch Zuwanderung 1.570 Einwohner hinzu – allerdings war nur in 6 von 10 Jahren die Wanderungsbilanz vierstellig, 2 x sogar negativ). Fazit: Nimmt man nun die vierstelligen Sterbeüberschüsse und die hohen dreistelligen Wanderungsgewinne der Prognose, kann man erkennen, wie die Stadt Chemnitz ihre eigene Schrumpfung (Korridor von -0,5 % bis -6,6 % bis 2035) errechnet hat.
II. Die Chemnitzer Bevölkerungsvorausberechnung reiht sich mit seiner Gesamtwahrnehmung (geringe Schrumpfung) in den Kanon anderer Bevölkerungsprognosen zur Entwicklung der Stadt ein. Die „7. Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung“ des Statistischen Landesamtes des Freistaates Sachsen (Veröffentlichungsjahr 2020) fußt auf Werten des Jahres 2018 und errechnet für die Stadt Chemnitz (je nach Szenario)
- für das Jahr 2025 Bevölkerungszahlen von 242.760 bis 245.420
- für das Jahr 2030 Bevölkerungszahlen von 233.920 bis 241.080
- für das Jahr 2035 Bevölkerungszahlen von 225.090 bis 236.770
Die „Raumordnungsprognose“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (erschienen 2021) rechnete mit Zahlen von 2017 und prognostiziert für die Stadt
- für das Jahr 2040 eine Bevölkerungszahl von 227.700
Aber auch für diese Prognosen gilt: Sie alle kannten zum Zeitpunkt ihrer Erstellung weder Corona noch den Russland-Ukraine-Krieg.
III. Die allgemein existierende Unsicherheit bei den Wanderungszahlen und die konkreten Folgen des Russland-Ukraine-Krieges in Chemnitz haben dazu geführt, dass die Prognose der Stadtverwaltung paradoxerweise bereits mit Erscheinen „veraltet“ ist. Chemnitz hatte Ende Juli 2022 3.200 Einwohner mehr als am 31.12.2021 – eine Zahl, die zumindest im Kontext der Chemnitzer Bevölkerungsanzahl nicht unerheblich ist. Niemand weiß, wie sich die Flüchtlingszahlen im Verlauf des Krieges noch entwickeln werden, aber die Erfahrung lehrt, dass – je länger der Krieg andauert – die Zahl der „Hier-Bleiber“ steigt, dass eventuell noch einige ukrainische Männer, die bislang das Land nicht verlassen dürfen, ihren Familien folgen werden. In der empirischen Realität führt das dazu, dass die Bevölkerungsprognose für die kurzfristige Zukunft dahingehend „falsch“ sein wird, dass die Einwohnerzahlen von Chemnitz 2022-2025 mit großer Sicherheit über den Werten der oberen Variante der Prognose liegen werden.
IV. Die Stadt Chemnitz hat mit der vorliegenden Prognose dennoch Mut bewiesen. Nachdem in den letzten Jahren Wachstum propagiert wurde (TAG 24 schrieb 2018 einmal: „Experten sicher: Darum hat Chemnitz bald 250.000 Einwohner!“) und auch das CWE-Stadtmarketing mit einer wachsenden Bevölkerungszahl warb, steht nun – schwarz auf weiß und von der Stadtverwaltung selbst publiziert – plötzlich für die nächsten Jahre eine Schrumpfung, bestenfalls eine Bevölkerungsstabilisierung im Raum. Es wäre aus Sicht der Stadt ein leichtes Unterfangen gewesen, in Anbetracht des Ukraine-Zuzugs die eigene Prognose zu relativieren oder gar über Bord zu werfen, aber die Stadtverwaltung hat sich entschieden, genau diese Werte zu veröffentlichen und muss nun mit dem Echo leben (TAG24: „Düstere Prognose! Chemnitz könnte bis 2035 Tausende Einwohner verlieren!“ – FREIE PRESSE: „Chemnitz schrumpft weiter: Stadt sucht Gründe, warum so viele wegziehen“). Wenn man weiß, wie manche Branchen diese Dokumente für bare Münze nehmen, gehört Mut dazu, solche Zahlen zu veröffentlichen, wenn auch bessere (günstigere) Prognosen möglich gewesen wären.
V. Das wirft die Frage auf: Wem hilft die Prognose, wem nicht? Generell gilt natürlich: Eine schrumpfende Stadt – sollte der Befund zutreffen – hilft erst einmal niemanden. Auf dem Chemnitzer Wohnungsmarkt dürften dennoch einige Akteure nicht ganz unglücklich mit der Prognose sein, vor allem jene, die mit Leerständen zu kämpfen haben und daher jede Form von Wohnungsneubau kritisch gesehen haben, da dieser den Sockel-Leerstand in der Stadt in den letzten Jahren manifestiert hat. Sollte Chemnitz entgegen der Prognose wachsen, der Wohnungsneubau aber nur noch erschwert stattfinden, könnte das diesen Anbietern in die Karten spielen, da diese nun erst einmal ihre freien Wohnungen an den Mann bzw. die Frau bringen könnten. Auf der anderen Seite werden all jene Akteure, die Chemnitz als wachsende Stadt marketingmäßig bespielt haben, nun das Problem haben, dass Teile ihrer Zielgruppe (z. B. Kapitalanleger) nicht in schrumpfende Städte investieren wollen.
VI. Eventuell dient die Bevölkerungsvorausberechnung aber auch politischen Zwecken. Das Dokument zur Prognose beinhaltet nicht nur Zahlenwerte bis 2035, sondern auch Wanderungsbilanzen von Chemnitz mit seinem Umland und mit Dresden und Leipzig. Hierbei wird deutlich, dass die Stadt vor allem an sein unmittelbares Umfeld im Saldo Bevölkerung verliert. Es steht die These im Raum, dass viele Familien schlussendlich Chemnitz verlassen (müssen), um auf geeigneten Flächen bauen bzw. Eigentum erwerben zu können. Eventuell kann also die Bevölkerungsvorausberechnung (bzw. die Gefahr der Schrumpfung der Stadt) als Begründung verwendet werden, stadtplanerisch ein verändertes Vorgehen an den Tag zu legen und Neubauflächen für Eigenheime am Stadtrand offensiver auszulegen (als dies bislang der Fall war, Stichwort: Wohnbauflächenkonzept Chemnitz 2030), damit die Chemnitzer Familie nicht über die Stadtgrenze hinaus ihr Glück versuchen muss.
VII. Letzte Anmerkung: Der alte Spruch „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“ gilt allgemein und besonders in Chemnitz. Alle Prognosen der nahen Vergangenheit erwiesen sich als unzutreffend. Während die vorletzte Prognose (enthalten im „Städtebaulichen Entwicklungskonzept – Chemnitz 2020“ – im Stadtrat 2009 beschlossen) von einer unteren und oberen Grenzvariante zwischen 225.800 bis 232.600 Einwohnern ausging (Betrachtungszeitraum bis 2020, tatsächlich waren es ca. 245.000), rechnete die 2016er Prognose plötzlich mit einem Wachstum und ging für das Jahr 2030 von Einwohnerzahlen von 249.000 bis 262.000 aus. Jeweils quasi mit Veröffentlichung der Vorausberechnungen änderten sich die Rahmenbedingungen und die Rechenannahmen waren mehr oder weniger obsolet. Blickt man nur auf die demographisch relevanten Entwicklungspunkte der letzten Jahre für Chemnitz (Syrien 2015, Chemnitz 2018, Corona 2020-2022, Ukraine 2022), so sieht man, wie schwierig Bevölkerungsvorausberechnungen sein können. Neben den Folgen des Russland-Ukraine-Krieges steht mittelfristig auch noch die Kulturhauptstadt 2025 in den Startlöchern, deren Image-Wirkungen für Chemnitz niemand genau abschätzen kann, denen man aber zumindest unter Wanderungsaspekten gewisse Potenziale unterstellen kann. Kurzum: Wenn „aller guten Dinge drei sind“ (d. h. auch die 2022er-Prognose nicht eintreffen sollte, dann wächst Chemnitz und spätestens 2027/2028 ruft die Immobilienbranche nach einer neuen (optimistischeren) Prognose.
Quellen:
- Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: „Raumordnungsprognose 2040“
- Freistaat Sachsen, Statistisches Landesamt: „7. Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung“
- Stadt Chemnitz: Städtebauliches Entwicklungskonzept (SEKo) der Stadt Chemnitz“
- Stadt Chemnitz – Stadtrat: „Grundsatzbeschluss SEKo-Bearbeitung B-88/2007 – Bevölkerungsentwicklung in Chemnitz bis 2020“
- Stadt Chemnitz – Stadtplanungsamt: Wohnbauflächenkonzept Chemnitz 2030
- Stadt Chemnitz – Amt für Informationsverarbeitung: "Jahrbuch der Stadt Chemnitz 2019/2020"
- Stadt Chemnitz – Amt für Informationsverarbeitung: „Bevölkerungsvorausberechnung 2016 für die Stadt Chemnitz“
- Stadt Chemnitz – Amt für Informationsverarbeitung: „Bevölkerungsvorausberechnung 2022 für die Stadt Chemnitz“
- Stadt Chemnitz – Amt für Informationsverarbeitung: „Stadtteile 2020“ und Vorgänger-Ausgaben
- Stadt Chemnitz – Amt für Informationsverarbeitung: „Statistische Quartalsberichte“ aus den Jahren 2014 bis 2021
- Freie Presse (Online-Ausgabe vom 25.08.2022)
- TAG 24 (Online-Ausgabe vom 25.08.2022 und vom 20.08.2018)
Kommentar schreiben